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zwettls traum?

die nibelungenfragmentfunde der frau dr. ziegler.

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fragment

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schön ist das österreichische waldviertel, mystisch nennen es manche. und inmitten dieses mystischen waldviertels liegt das stift zwettl. im kreuzgang wandeln die mönche, in der stifts-bibliothek sitzt frau dr. charlotte ziegler. wie andere mittelalterforscher auch, führt sie dort ein entbehrungsreiches gelehrtenleben zwischen staubigen handschriften und dickleibigen folianten. vor ihr betreute ein mönch des stifts die bibliothek, und dieser mönch hinterließ ihr neben viel arbeit eine kleine schachtel mit 12 fragmentschnipseln, mit denen er nichts hatte anfangen können.

und hier beginnt die geschichte.

denn anfang des jahres 2001 konnte ziegler etwas damit anfangen: „nibelungisches“ konnte sie auf den fragmenten lesen, und sie datierte diese bloß wenige zentimeter großen pergamentfetzchen auch, und zwar auf das 12. jahrhundert. eine sensation!, dachte sie sich. denn die ältesten bekannten textzeugen des nibelungenliedes stammen aus dem frühen 13. jahrhundert. und ob eine ältere, schriftliche fassung dieses „nationalepos' der deutschen“ überhaupt existiert, darüber streiten sich die gelehrten seit Jahrzehnten...

kurze zeit später flog ziegler auf eine mediävistentagung ins amerikanische calamazoo und stellte ihren fund vor. die versammelten professoren aber reagierten ablehnend, wollten genauere beweise für ihre nibelungen-these, bessere abbildungen, nähere Informationen, hatten sie doch das Gefühl, hier behaupte eine laiin etwas, ohne vorher genügend geforscht zu haben. Ihnen blieb der calamazooer auftritt von frau ziegler im bewußtsein als schlecht vorbereitet und konfus. und ziegler erinnert sich an die professoren in calamazoo als arrogante, akademische schnösel mit rüdem umgangston.

und sie gab nicht auf. sie publizierte die fragmente in abbildungen und ihre thesen mitte 2002 in einer privatpresse und suchte prominente mitstreiter für ihre lesart, datierung und transkription. aber an wen sie sich auch wendete, immer wieder mußte sie hören: nein, 12. jahrhundert können wir nicht erkennen, und nibelungisches?, da sind wir uns ganz und gar nicht sicher…

im märz 2003 wurde das „webportal für österreichische kirchenarchive“ auf einer pressekonferenz vorgestellt, und Frau ziegler hielt einen kleinen vortrag, in dem sie auf ihrer lesart von den „ältesten nibelungischen fragmenten“ bestand. ein kleiner anlaß, eine große wirkung. denn aus dieser pressekonferenz wuchs, warum auch immer, ein gewaltiges presse-echo. alle namhaften feuilletons im deutschsprachigen raum beschäftigten sich mit dieser vermeintlichen sensation, fernsehteams rückten an. bis argentinien und vietnam verbreitete sich die kunde, es gäbe da neue erkenntnisse zum deutschen heldenepos… und die professoren reagierten: allen voran professor heinzle aus marburg, der angesehenste fachmann auf dem gebiet des nibelungenliedes, äußerte seine bedenken. frau ziegler könne vermutlich gar kein mittelhochdeutsch, ihre lesarten seien haarsträubend. außerdem fehle ihr das paläographische handwerkszeug, und ihre datierung sei nicht haltbar – kurz: frau Ziegler solle so schnell wie möglich die betreffenden funde berufenen kapazitäten zur sichtung und transkription übergeben. namhafte Kollegen schlossen sich heinzles meinung an – obwohl keiner von ihnen, auch heinzle nicht, die fragmente im original gesehen hatte.

der pressewirbel erlosch so schnell wie er entstanden war, die sache von der „neuschreibung der literaturgeschichte“ schien vom tisch zu sein. man vertraute den autoritäten, und zu denen gehörte charlotte ziegler nicht.

im winter 2003/04 besuchte ich sie. noch immer saß sie über ihren funden. und sie stellte mir eine ungewöhnliche lesart dieser fragmente vor: sie hat in diesen uralten pergamentfetzchen etwas entdeckt, das atemlos macht... etwas unheimliches, das die fachwelt erneut in staunen versetzen wird…

eine sendung über pressehysterie, den kampf zwischen laien und professoren sowie die anwendung der paranoisch-kritischen methode in den wissenschaften.


über dieses feature hat tanja runow eine magisterarbeit an der FU-berlin geschrieben und mich viele jahre später noch einmal dazu befragt. das gespräch findet sich hier.

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produktion: orf / rbb 2004

regie: michael lissek

erstaustrahlung: orf, hörbilder, 27. märz 2004

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"ZWETTLS TRAUM" nahm 2004 als einreichung des ORF am Prix Marulic in Kroatien teil

kritik in der FAZ